Neben der Erstbesteigung des Lhotse (8516 m) gelangen Ernst Reiss (1920–2010)
auch in den Alpen grosse Erstbegehungen, unter anderen die Südostwand des
Kleinen Wellhorns und die Nordostwand des Gspaltenhorns. Oft war er dabei mit
seinem Seilgefährten Dölf Reist unterwegs. Auf zwei Expeditionen in die
peruanischen Anden gelangen Reiss 1959 und 1965 mehrere Erstbesteigungen.
In einfachen Verhältnissen in Davos aufgewachsen, blieb Ernst Reiss trotz
seiner Erfolge ein bescheidener Mensch, der sich nie ins Rampenlicht stellte.
Der gelernte Metallarbeiter war Mitglied der Naturfreunde und des Schweizer
Alpen-Club; der Österreichische Alpenklub, eine Vereinigung leistungsstarker
Bergsteiger, nahm ihn als Ehrenmitglied auf. Er schrieb gern und verfasste
häufig Berichte für die alpine Presse und die Zeitung «Sport». Der Berner
Oberländer Schriftsteller Erwin Heimann ermunterte ihn zu seinem
autobiografischen Werk «Mein Weg als Bergsteiger». Das Buch erzählt
anschaulich und spannend von seinem Werdegang als Alpinist von den Bündner
Bergen bis zu den höchsten Gipfeln der Welt.
Reiss schaffe damit «eine Brücke vom Bergerlebnis zur Literatur», schreibt
Heimann im Vorwort des Buchs. Es ist das literarische Dokument einer Zeit, in
der sich der Alpinismus in der Schweiz und international rasch entwickelte,
aber noch frei war von der heutigen Kommerzialisierung. Expeditionen waren
langwierige und abenteuerliche Unterfangen, die Rettungstechnik war auch in
den Alpen noch wenig entwickelt. Ernst Reiss nahm bis ins hohe Alter regen
Anteil an der Entwicklung des Alpinismus, pflegte einen grossen Freundeskreis
und blieb stets ein kritischer Geist. «Ich habe ein reiches Leben gehabt»,
sagte er kurz vor seinem Tod. Eine Neuausgabe seines Buches, ergänzt mit einer
aktualisierenden Einführung und neueren Texten rechtfertigt sich als
alpinhistorisches Zeitdokument, spannende Lektüre und Würdigung einer grossen
Persönlichkeit.