Wahrnehmung und Darstellung eines Alpenpasses im Mittelalter
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und Darstellung
eines in Mittelalter und Neuzeit sehr bekannten Bündner Alpenpasses, des
Septimer, auf 2310m Höhe am Alpenhauptkamm gelegen, und auch mit der über ihn
führenden Strasse von Chur nach Chiavenna, wie sie in mittelalterlichen
Reiseberichten und anderen Reisenotizen, literarischen, geographisch-
kartographischen Quellen und Rechtstexten begegnen.
Unter den literarischen Quellen finden sich bekanntere wie Gottfrieds von
Strassburg Versroman von Tristan und Isold, aber auch weniger bekannte wie der
hebräische Josippon aus dem 10. Jahrhundert und ein Schulbuch für den
Elementarunterricht an Kloster- und Stiftsschulen, das sog. Summarium Heinrici
noch aus dem 11. Jahrhundert, ferner spätmittelalterliche Passionsspiele, die
für ein breiteres Publikum gedacht waren.
In einigen Quellen fällt auf, dass die Vorstellung der Menschen, ihr
Erfahrungs- und Bildungswissen, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt,
vielmehr der Septimerpass, obgleich keineswegs der höchste Berg der Alpen, die
Aura von unfassbarer Grösse, von Unendlichkeit hat bzw. im Verbund mit dem
Grossen St. Bernhard im Westen als Metapher für die Alpen schlechthin steht.
Während beide Pässe in der berühmten Ebstorfer Weltkarte des 13. Jahrhunderts
in einen heilsgeschichtlichen Kontext eingebettet sind, wird der Septimerpass
im Spätmittelalter in Itineraren und Karten zum realen geographischen Punkt.
Doch sind diese Karten noch nicht die nüchternen Produkte wissenschaftlicher
Vermessung moderner Zeit, wenn sie auch schon Ansätze dazu zeigen; vielmehr
haftet ihnen ein ganz eigener Reiz an, besonders ausgeprägt in einer
Bearbeitung der verlorenen Cusanus-Karte aus dem späten 15. Jahrhundert, in
welcher die Berge wie Jakobsmuscheln oder Napfkuchen wirken.
Ebenso erlangte der Septimerpass im Mittelalter als vermeintlicher
Hauptquellort des Rheins bzw. als wichtige Wasserscheide der Alpen und als
häufig – besonders in den Landfrieden des 14. Jahrhunderts – fixierter
Grenzpunkt Berühmtheit, während er heute ziemlich unbekannt ist. Doch selbst
die grosszügige Sanierung des (gepflasterten) Passweges zwischen Bivio und
Casaccia, dessen Überreste vermutlich vom Strassenbau des Bergellers Jakob von
Castelmur aus dem späten 14. Jahrhundert herrühren, durch das Inventar
historischer Verkehrswege der Schweiz in den 1990er-Jahren vermochte den einst
so berühmten Alpenübergang nicht aus seiner Nische zu holen: Er bleibt ein
einsamer Pass, der Wanderer und Skiläufer an eine grosse Vergangenheit
erinnern kann.
452 Seiten mit Illustrationen